Christian Tiefensee

Lackiertes Unbehagen

„Man kann das Wesen der Entfremdung nicht ganz verstehen, wenn man einen speziellen Aspekt unseres modernen Lebens außer acht läßt: die Routinisierung und die Verdrängung der Grundprobleme menschlicher Existenz aus dem Bewußtsein. Wir berühren hier ein universales Problem des Lebens. Der Mensch muß sich sein tägliches Brot verdienen, und das ist stets eine Aufgabe, die ihn mehr oder weniger in Anspruch nimmt. Er muss die vielen zeit- und energieverschlingenden Aufgaben des täglichen Lebens erfüllen und kommt dabei ohne eine gewisse Routine nicht aus. Er baut eine gesellschaftliche Ordnung, Konventionen, Gewohnheiten und Vorstellungen auf, die ihm das Notwendige vollbringen helfen und die es ihm ermöglichen, mit den Mitmenschen möglich reibungslos zusammenzuleben. Es ist kennzeichnend für eine jede Kultur, daß sie als Überbau über der natürlichen Welt, in der wir leben, eine vom Menschen geschaffene künstliche Welt errichtet. Aber der Mensch kann nur zur Erfüllung seiner selbst gelangen, wenn er mit den Grundgegebenheiten seiner Existenz in Berührung bleibt, wenn er noch fähig ist, das Erregende von Liebe und Solidarität wie auch die tragische Tatsache seiner Einsamkeit und des fragmentarischen Charakters seiner Existenz zu erleben. Wenn er ganz in der Routine und in den künstlichen Machenschaften des Lebens verfangen ist, wenn er nichts anderes mehr sehen kann als das vom Menschen geformte Alltagsgesicht der Welt, dann verliert er den Kontakt mit sich selbst und der Welt. Wir finden den Konflikt zwischen der Routine und dem Versuch, zu den fundamentalen Realitäten des Lebens zurückzugelangen, in jeder Kultur. Dabei zu helfen, war von jeher eine der Funktionen von Kunst und Religion, wenn auch die Religion selbst gelegentlich zu einer neuen Form der Routine wurde.“ (Erich Fromm / The Sane Society)

 

Christian Tiefensee wurde 1977 in Würzburg geboren. Er studierte von 2002 – 2007 Fotografie an der FH Bielefeld, derweil lebt und arbeitet er in Leipzig.