Anika Neuß

Delusion

Gemütszustände, wie etwa das Gefühl neben sich zu stehen oder nicht ganz man selbst zu sein, beschreiben eine wage Vermutung gedanklicher Entfremdung seiner selbst. Hervorgerufen werden kann dieser Zustand durch Dialoge mit Mitmenschen, dem Beobachten fremder Handlungen, oder dem sympathisieren bestimmter Ereignisse im Außen. Fremde Verhaltensmuster werden adoptiert, nicht selbsterlebte Erfahrungswerte in den eigenen Kontext integriert. Plötzlich besetzt von Gedanken oder Meinungen anderer, beschleicht einen das ungute Gefühl, vielleicht ein Konstrukt aus fremden und un-eigenen Ideologien der Außenwelt zu sein.
Letztendlich besitzen die meisten Menschen jedoch ein ganz gewisses Gespür für den wesentlichen Kern ihrer selbst, der vor einer zu starken Projektion schützt und daran erinnert, selbst einen freien Willen zu besitzen und zu schätzen. Die wahre und reine Form des Ichs, welche sich bewusst von anderen Ich’s abgrenzt und hinsichtlich bestimmter Eigenschaften Menschen einzigartig wirken lässt, bringt immer wieder eine gesunde und essentielle Distanz zwischen das Innen und das Außen.

Was aber, wenn die Distanz schwindet? Wenn sie Nähe zu lässt und somit kurz vor einer Verinnerlichung steht? Wenn die Grenzen verschwimmen und das Außen zum Innen wird?

Anika Neuß beschäftigt sich in ihrer fotografischen Arbeit »Delusion« mit genau dieser Thematik und schafft es, die Fotografie selbst den Extremfall prüfen zu lassen.
Inspiriert von der Protagonist Sybil Isabel Dorsett, aus dem 1976 in New York veröffentlichten Buch Sybil, geschrieben von Flora Rheta Schreiber, zeigt die fotografische Abschlussarbeit »Delusion« 16 Porträtsituationen, welche die 16-fache Persönlichkeitsaufspaltungen von Sybil Isabel Dorsett visualisieren. Basierend auf einer angeblich wahren Geschichte, welche im Zusammenhang mit der Patientin Shirley Ardell Mason steht, erzählt das Buch die Geschichte von Sybil, die, ausgelöst durch traumatische Geschehnisse, an einer Dissoziativen Persönlichkeitsstörung erkrankt. Anika Neuß interpretiert für ihre Arbeit, anhand von Hintergrundfragen in Bezug auf Identität und Wahrheit im Bild, Sybils fiktive Persönlichkeiten nach den Beschreibungen im Buch. Die Arbeit nimmt Bezug auf die Kuriosität des Falls und zitiert fotografisch das Phänomen der Identitätsspaltung.
Ein wesentlicher Bestandteil der fotografischen Umsetzung beinhaltet das Projizieren des Gesichts von Shirley (entnommen aus einer 1941 angefertigten Fotografie) auf das Gesicht der sechzehn Modellen in Neußs Arbeit. Wie ein roter Faden zieht sich das kontinuierliche Intergrieren der Beamerprojektion durch die Arbeit und lässt den Betrachter an der Glaubwürdigkeit des Zusammenhangs der einzelnen Charaktere zweifeln. Realitätsverfälschend und unterstützend zugleich, inszeniert die Fotografin charakteristische Gegenstände in den Fotografien der einzelnen Stellvertreter, wie etwa eine Wärmflasche oder eine Plüschkatze, und lässt sie wie Hinweise auf den gemeinsamen Nenner aller Persönlichkeiten im Bild sprechen. Mimik und Gestik, die Art der Kleidung, aber auch die, zum Teil noch anwesende, Persönlichkeiten der verkörpernden Modelle, tragen zu einem Tableau bei, welches von Kontrollverlust und einer Suche nach der Wahrheit erzählt.

Anika Neuß schloss im Wintersemester 2015/16 mit »Delusion« ihren Master ab. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Roman Bezjak und Prof. Kirsten Wagner