Amelie Befeldt

Apokryphon

Er läuft, sie läuft. Alle laufen.

Die rote Aschebahn ist wie eine Kette um die Insel gelegt, Läufer folgen ihr, begegnen mir in regelmäßigen Abständen wie Perlen an einem Rosenkranz.

Laufen war die erste Disziplin der Olympischen Spiele, es gefällt mir, dass jemand einen Kranz aus Buchsbaum auf einen Stein am Rand der Bahn gelegt hat. Ein Mann zieht an mir vorbei. Ein Sportler. Ich schaue ihm nach. Sein verschwitzter Rücken bestätigt seine Identität: Schweißabdrücke entfalten sich wie Flügel links und rechts der Wirbelsäule. Ich warte einen Moment, er fliegt trotzdem nicht davon. Ich gehe langsam weiter.

Die Olympischen Spiele der Antike verbanden Sport und Kult, gelaufen wurde, um den Göttern zu ehren. Gelaufen wird heute immer noch. Der Arm eines Läufers streift meinen, sein Shirt ist blau. Blau und gelb und schwarz und grün. Und rot. Die olympischen Farben.

Ich gehe ihnen entgegen. Obwohl nicht vorgeschrieben, laufen sie in eine Richtung, zielstrebig, manche emsig. Alle schwitzend. Nicht jeder Schweißabdruck verleiht seinem Sportler ein Paar Flügel. Ihre Formen lassen sich vielfältig deuten, ich lese sie wie eine kurze Beschreibung ihrer Träger. In die Aschebahn der Insel eingebettet bilden sie Zeilen.

Amelie Befeldt studiert seit 2011 Fotografie & Medien an der FH Bielefeld. »Apokryphon» fotografierte sie in Budapest, wohin sie im Rahmen eines Seminars bei Prof. Roman Bezjak reiste.